Als ich im Rahmen des Schwellenkunst-Seminars an der Universität Osnabrück durch meinen Dozenten aufgefordert wurde, verschiedene Schwellen von privat und öffentlich zu sammeln, fiel mir auf, wie viele Schwellen ich in meinem „normalen“
Alltag ohne Corona überschritten habe und wie sich das während des Lockdowns und bis heute verändert hat.
Sticker in Osnabrück |
Auch heute ist die erste räumliche Schwelle, die ich überwinde, die Türschwelle, die mich von meinem eigenen Zimmer in die Küche unserer WG bringt. Die Schwelle vom Hausflur auf die Straße überwinde ich ebenfalls jeden Tag. Jedoch habe ich seit fast einem halben Jahr weder die Schwelle zu einem der Seminarräume, noch zu einem Vorlesungssaal übertreten. Der universitäre Alltag steht still, die Universität ist geschlossen und die sozialen Kontakte fallen zu einem großen Teil weg.
Das Sommersemester 2020 fand nicht wie gewohnt analog in der Uni statt, sondern digital – jeder studierte in seinen eigenen vier Wänden. Hatte ich mich in den vergangenen Semestern noch über die lästige Anwesenheitspflicht beschwert, so fehlte mir nun der ganz normale Unialltag. Der Gang in die Mensa, die Freistunden
im Schlossgarten, das Lernen in der Bibliothek, der Unisport oder einfach ein Abend in meinem Lieblingsclub.
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All das war nun gar nicht mehr, oder nur noch mit Einschränkungen möglich. Viele Kommiliton*innen blieben in der Heimat, die Mensa und die Bibliothek konnten und können immer noch nur nach Anmeldung betreten werden und Musikclubs wurden geschlossen oder stehen kurz vor der Pleite.
In Zeiten des Social-Distancing fühlen sich Begegnungen mit anderen Menschen oft seltsam an - irgendwie steif, weniger spontan als vorher - und auch das Übertreten von Schwellen hat sich durch das Corona-Virus verkompliziert. Ständig begleiten mich die Fragen: Halte ich genug Abstand? Muss ich eine Maske aufsetzen? Mit wie vielen Leuten darf ich mich treffen? Was erwartet mich in Zukunft? All diese Fragen strengen an und lösen in mir eine Sehnsucht nach Unbeschwertheit, Spontanität, Bewegungsfreiheit und Nähe aus.
Auf der Suche nach einem Symbol, dass diesen Gefühlen einen Ausdruck verleiht, stieß ich schließlich auf das Symbol des Mundes. Der Mund schien mir besonders geeignet zu sein, da er auf mehreren Ebenen eine Schwelle verkörpert. Er ist die
Schwelle vom Äußeren zum Inneren des Körpers, mithilfe des Mundes können wir Sprechen und so unseren Gedanken und Gefühlen Ausdruck verleihen. Somit stellt der Mund ebenfalls eine Schwelle der zwischenmenschlichen Kommunikation dar. In
der Werbung dient er oft als sinnliches Symbol, weil er auch eine Schwelle zur Intimität und Sexualität markiert.
Um all diese Aspekte zu integrieren, entschied ich mich bei meiner Darstellung für einen geöffneten Mund mit einer Zunge, die an der Oberlippe leckt. Meine Darstellung des Mundes erinnert den Betrachter vielleicht an eine
Eiswerbung von Magnum oder das Logo der Rolling Stones. Der Mund wird in diesem Kontext mit positiven Aspekten wie Spaß, Lust, gute Laune, laue Sommerabende, Eis und Rock & Roll verbunden.
Um nun einen Bezug zur Corona-Pandemie herzustellen, fügte ich auf den Lippen und der Zunge kleine Viren ein. Die Viren sind erst bei näherem Hinsehen erkennbar, so wie die Corona-Viren mit dem bloßen Auge nicht gesehen werden können.
Trotzdem sind sie da und verbreiten sich durch Kontakt mit Anderen vor allem über Mund und Nase. Durch die Pandemie wird der Mund zu einer möglichen Quelle der Viren und seine symbolische Bedeutung erweitert sich. Galt der Mund zuvor noch als erotisches Symbol, dass Spaß und Lust vermittelte, wird er nun auch zu einer Art Virenschleuder, die zu einem Ansteckungsrisiko für jeden werden kann.
Der Mund ruft also widersprüchliche Assoziationen im Betrachter hervor. Um möglichst viele Menschen mit dem „Corona-Mund“ zu konfrontieren, entschied ich mich dafür, Aufkleber mit meinem Motiv drucken zu lassen und diese im öffentlichen Raum an Laternen und Straßenschildern zu verteilen. So kann der
Sticker von Passanten bewusst, sowie unbewusst wahrgenommen werden. Die Botschaft des Stickers vermittelt sich nicht direkt und soll den Betrachteter zum Nachdenken anregen. Wer mehr über den Sticker erfahren möchte, kann sich aber über den Hashtag „schwellenkunst“ informieren.
Durch die Verteilung des Stickers an verschiedenen Orten, verändert sich auch seine Bedeutung je nach Kontext anderer
Plakate und Sticker um ihn herum. Ein weiterer spannender Aspekt des Stickers ist, dass er sich wie das Virus quasi unbemerkt verbreitet und plötzlich an verschiedenen Orten auftaucht.
Ein Problem des Corona-Stickers ist jedoch, dass sich viele Passanten nicht die Zeit nehmen, den Sticker näher zu betrachten und die Botschaft somit nicht in jedem Fall vermittelt werden kann. Ich könnte mir vorstellen, noch weitere Sticker nur mit einem Virussymbol drucken zu lassen, um diese an verschiedenen Orten zu verteilen.
So würde ich Menschen auf die Verbreitung des Virus aufmerksam machen und sie daran erinnern, dass die Pandemie noch lange nicht vorbei ist, selbst wenn die Maßnahmen schon gelockert wurden.
Seminararbeit, Text und Bilder
von Leonie Vahl
von Leonie Vahl
für #schwellenkunst und weitere
experimentelle Kunstvermittlungen im
Fach Kunst an der Unversität Osnabrück
experimentelle Kunstvermittlungen im
Fach Kunst an der Unversität Osnabrück
Titel: Corona-Mund
Technik/Maße:
Digital bearbeitete Zeichnung / Rund, Durchmesser 9,5cm
Digital bearbeitete Zeichnung / Rund, Durchmesser 9,5cm
Kurzkonzept: Der Corona-Mund soll ein Symbol für die Schwellen sein, die wir vor Corona, ohne nachzudenken, übertreten haben und jetzt nicht mehr übertreten dürfen.
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